Oradour-sur-Glane
Der 220 km nordöstlich von Bordeaux gelegene kleine Ort Oradour-sur-Glane wäre wohl heute noch nur wenigen in der Nähe Wohnenden bekannt, wenn dort nicht am 10. Juni 1944 ein von Angehörigen der deutschen Waffen-SS verübtes Verbrechen geschehen wäre, bei dem fast alle Einwohner dieses Dorfs ermordet wurden. Danach wurde die Ortschaft in Brand gesteckt, und in dem danach entstandenen Zustand sieht man sie heute.
Das Massaker von Oradour-sur-Glane ereignete sich am 10. Juni 1944, wenige Tage nach der Landung der Alliierten in der Normandie. Es kostete 642 Frauen, Männer und Kinder das Leben. Verantwortlich dafür war eine Abteilung einer SS-Panzerdivision unter dem Kommando des Sturmbannführers Adolf Diekmann, die den Auftrag hatte, gegen Partisanen vorzugehen, die nach einem vagen Verdacht in dem Dorf vermutet wurden.
Die Dorfbewohner wurden ohne dass auch nur der Versuch gemacht wurde zu klären, ob es dort Partisanenverstecke gab, auf dem Marktplatz zusammengetrieben. Dann wurden die Männer von den Frauen und Kindern getrennt, die in die Kirche getrieben wurden. Die SS-Leute zündeten danach die Kirche an und warfen Handgranaten in den Kirchenraum. Dabei starben 207 Kinder und 254 Frauen. Die rund zweihundert Männer wurden in verschiedene Garagen und Scheunen gebracht und dort erschossen. Nur sechs Überlebende entkamen dem Massaker.
Angehörige der SS-Truppe kamen danach zurück, um Spuren zu beseitigen, was jedoch naturgemäß nicht gelingen konnte.
Von der Seite der deutschen übergeordneten Kommandoebene der Wehrmacht wurden nach dem Massaker kriegsgerichtliche Ermittlungen eingeleitet, die jedoch ohne Folgen blieben, da Hitler eine Untersuchung der Ereignisse in Oradour untersagte. Diekmann fiel wenige Tage später, ebenso wie ein großer Teil der Einheit, die das Massaker verübt hatte, in den Kämpfen im Norden Frankreichs bei dem vergeblichen Versuch, die in der Normandie gelandeten alliierten Verbände aufzuhalten.
Erst nach dem Krieg wurden in Frankreich nach umfangreichen Untersuchungen Verfahren gegen die überlebenden Hauptbeteiligten eingeleitet. Dabei konnten nur noch 65 Täter angeklagt werden. Am 13. Februar 1953 verurteilte ein Militärtribunal in Bordeaux 21 SS-Soldaten, von denen 14 aus dem Elsass stammten. 18 Angeklagte erhielten Strafen zwischen acht und zwölf Jahren Zwangsarbeit. Ein Beschuldigter wurde freigesprochen, zwei wurden zum Tode verurteilt. Nach dem Bekanntwerden der Urteile erhob sich im Elsass ein Sturm der Entrüstung, der dazu führte, dass die elsässischen Angehörigen der SS, die in Oradour gewesen waren, amnestiert wurden. Die Urteile gegen die Deutschen wurden in Haftstrafen umgewandelt, auch die Urteile gegen die beiden zum Tode Verurteilten wurden zu lebenslänglichen Haftstrafen gemildert. 1959 wurden auch diese Täter freigelassen.
Nach der Amnestie für die aus dem Elsass stammenden Angehörigen der SS war man in Oradour fassungslos. Man gab nationale Ehrungen zurück und untersagte für Jahrzehnte jedem Repräsentanten des französischen Staates, in Oradour in offizieller Funktion aufzutreten. Eine Ausnahme machte man lediglich 1962, als dem Präsidenten de Gaulle ein Besuch gestattet wurde.
In der Bundesrepublik Deutschland wurde niemand wegen der Ereignisse in Oradour vor Gericht gestellt, doch wurden seit dem Auftauchen bislang unbekannter Unterlagen seit 2010 Untersuchungen durchgeführt, deren Ergebnisse allerdings nicht zu Gerichtsverfahren geführt haben. In der DDR, in der man ebenfalls Kenntnis von den Vorgängen in Oradour hatte, wurden in den 80er Jahren des letzten Jahrhundert einer der Tatbeteiligten ausfindig gemacht und verurteilt.
Obwohl ein Zweifel daran, dass in Oradour ein Massaker vorsätzlich geplant und verübt worden ist, nicht bestehen kann, werden auch heute in bestimmten Kreisen immer noch Versuche unternommen, die Ereignisse umzudeuten, um die SS zu entlasten und die Ereignisse des 10. Juni 1944 als eine Verkettung unglücklicher Umstände darzustellen, für die der französische Widerstand gegen die deutsche Besatzung verantwortlich gemacht wird.
Die Ruinen des während des Massakers zerstörten Ortes wurden 1946 zum historischen Denkmal erklärt und in dem Zustand belassen, in dem sie sich nach dem 10. Juni 1944 befanden. Es wurde ein Dokumentationszentrum errichtet, das Centre de la Mémoire. Das neue Oradour-sur-Glane, das mittlerweile rund 2500 Einwohner hat, wurde abseits der Ruine angelegt. Der Friedhof des Ortes, der in besonderer Weise die Erinnerung an das Massaker wachhält, gehört zu den meistbesuchten in Frankreich.
Hier amtete einst der Zahnarzt
Die ehemalige Hauptstraße mit den erhalten gebliebenen Straßenbahnschienen und der dazu gehörenden Oberleitung
Die ehemalige Schmiede
Das ehemalige Café
Eines der Gebäude, in denen die Männer zusammengetrieben und ermordet worden waren.
Die Ruine der Kirche, in der die Frauen und Kinder eingesperrt, umgebracht und verbrannt wurden.
Die Reste der bei dem Brand geschmolzenen Kirchenglocke
Die Ruine des Kircheninneren
Ein weiterer Ort, an dem Männer des Ortes ermordet wurden.
Aufgang zur Erinnerungsstätte
Blick auf den Friedhof. Unter der Säule in der Bildmitte befindet sich das gemeinschafliche Grab der Opfer des Massakers.
Ausschnitt aus der Liste der Namen der Opfer. Hinter den Namen das Alter der Ermordeten
Auf vielen Familiengräbern zu finden: Hinweise auf die Opfer
Aus dem Figaro, 4. Sept. 2013:
Zwei Präsidenten in Oradour-sur-Glane
Der französische Präsident François Hollande und sein deutscher Amtskollege Joachim Gauck haben am 4. September 2013 gemeinsam den kleinen nordöstlich von Bordeaux gelegenen Ort Oradour-sur-Glane besucht, der seit dem Massaker einer Abteilung der Waffen-SS vom 10. Juni 1944, bei dem 642 Einwohner des Dorfes ermordet wurden, zu einem Symbol der Unmenschlichkeit der Kriegsführung der SS geworden ist. Die Präsidenten Hollande und Gauck besuchten gemeinsam die Ruinen von Oradour. In der Kirche trafen sie einen der wenigen Überlebenden und nahmen ihn in ihre Mitte. Eine weitere Station war der Friedhof, auf dem nach kurzen Ansprachen der beiden Präsidenten Einträge in das Goldene Buch von Oradour vorgenommen wurden. Die Bilder, die bei diesem Besuch entstanden, erinnern in ihrer Symbolik an den gemeinsamen Besuch von Präsident Mitterand und Kanzler Kohl in Verdun im Jahre 1984 oder an den Besuch von Kanzler Adenauer bei Präsident de Gaulle in Colombey-les-deux-églises, dem Wohnort de Gaulles, im Jahre 1958, allesamt Stationen, an denen sich das Wachsen einer zunehmend festeren Freundschaft zwischen zwei Völkern ablesen lässt, denen lange Zeit eingeredet wurde, sie seien Erbfeinde.
(vgl. S. de Royer: Hollande et Gauck, main dans la main à Oradour, in: Le Figaro, 04. Sept. 2013, 20.27h, Internet-Ausg.)