Strom für die Tram

APS  (alimentation électrique par le sol) – Das System der Stromversorgung der Straßenbahn von Bordeaux

Hätte man zu Zeiten, als Radio Eriwan noch aktiv war, dorthin die Frage gerichtet, ob eine Straßenbahn auch ohne Strom auskommen kann, wäre die Antwort wahrscheinlich gewesen: Im Prinzip ja, aber sie fährt dann nicht.

Wenn man heutzutage die Tram in Bordeaux betrachtet, kann man allerdings den Eindruck haben, dass Radio Eriwan in diesem Punkt nicht ganz auf der Höhe der Zeit gewesen wäre..

Diese Straßenbahn scheint doch, wenigstens zeitweise, ohne Strom auszukommen, denn vor Einfahrt in die Innenstadt ziehen die meisten Linien ihre Stromabnehmer ein und fahren ohne Kontakt mit der nicht mehr vorhandenen Oberleitung weiter. Und das geht mit ganz und gar rechten Dingen zu.

Die Straßenbahn von Bordeaux ist tatsächlich weltweit eines der wenigen Systeme, das dieses Kunststück fertig bringt. Das hat besonders dort seine Reize, wo der historische Stadtkern nicht durch ein unansehnliches Spinnennetz von scheinbar kreuz und quer gespannten Drähten verschandelt werden muss. Insgesamt sind in Bordeaux derzeit rund 14 km Strecke so ausgerüstet

Die Erklärung liegt dort, wo es keine Oberleitung gibt, am Boden, zwischen den Schienen.

Hier sind Betrachter mit Märklin-Erfahrung im Vorteil, denn die kennen das Prinzip, dass ein Zug aus einer zwischen den Fahrschienen angebrachten Mittelschiene mit Strom versorgt werden kann. Aber, fragt jetzt zu Recht der mitdenkende ehemalige elektrische Eisenbahner, bei Märklin ging das mit 14 Volt, damit kann man doch keine Straßenbahn antreiben! Kann man auch nicht. Die Bahn in Bordeaux wird mit 750 Volt Gleichstrom versorgt, und so etwas kann man nicht einfach ungeschützt zwischen die Fahrgleise legen. Nur lebendige Fahrgäste zahlen, und darauf will man nicht verzichten.

Wenn man nachdenkt, findet sich aber eine Lösung. In Bordeaux geht das so: Die Mittelschiene ist unterteilt in 8 m lange leitfähige und 3 m lange nichtleitfähige Segmente. Wenn sich kein Zug über der Mittelschiene befindet, ist diese stromlos. Erst wenn ein leitfähiges Stück in voller Länge von einem Zug bedeckt wird, wird der Strom zugeschaltet. Mit der Fortbewegung des Zuges wandert auch der stromführende Teil der Mittelschiene mit. Ganz einfach. Es muss nur funktionieren.

In Bordeaux ist das nach rund eineinhalb Jahren schmerz- und kostenreichen Kampfs gegen die Kinderkrankheiten einer Weltpremiere inzwischen gelungen. Allerdings hat diese technische Extravaganz auch ihren Preis. Die Bau- und Betriebskosten für die oberleitungsfreien Teilstücke liegen deutlich über den Kosten für die „normalen“ Abschnitte. Deshalb wird in Zukunft diese Technologie nur noch sehr zurückhaltend eingesetzt.

Was man nicht sieht, weil es im Untergrund verborgen ist, das ist ein Kabeltunnel, der unter den Gleisen verläuft und in dem bis zu 24 verschiedene Kabel verlegt sind, die nicht nur die Stromversorgung der darüber liegenden Mittelschiene, sondern auch die Signalanlagen, die Beleuchtung der Haltstellen und noch manches andere steuern.

Außer Gebrauch ist inzwischen ein in der Anfangszeit der neuen Tram in Bordeaux verbreitetes Spielchen: Da sah man sich an und fragte: Oui? Wenn der Gefragte nickte, hieß das: Die Bahn fährt. Schüttelte er den Kopf, bedeutete das, dass die Tram mal wieder nicht fuhr. Wer nicht Bescheid wusste, konnte ruhig den Kopf schütteln. Meistens hatte er Recht.

 

Nun zum Bildteil:

Ohne Drahtgewirr formschön und leistungsfähig: Die Straßenbahn im Zentrum von Bordeaux

 

Auch am Garonne-Ufer ohne Oberleitung

 

Das Geheimnis der Mittelschiene: Die helleren und kürzeren Segmente sind immer nichtleitend, die metallisch blanken führen Strom, wenn sie ganz von einem Zug bedeckt sind. Der Zug nimmt über einen Schleifer, der abgesenkt wird, wenn der Stromabnehmer auf dem Dach eingezogen wird, den Strom aus diesen 8 m langen Metallschienen auf. Das An- und Abschalten der stromführenden Segmente wird über eine im Prinzip einfache elektronische Schaltung geregelt, die jedoch in der Anfangsphase durch extreme Temperaturen, Feuchtigkeit etc. oft aus dem  Takt gebracht wurde.

 

Hier im Vordergrund links ein nichtleitfähiges Segment der Mittelschiene, rechts daran anschließend, die doppelt ausgeführte zeitweise stromführende Mittelschiene. In der oberen Bildhälfte das ebenso ausgelegte Gleis für den Gegenverkehr. Die aluminium-farbenen runden Gebilde haben nichts mit der Straßenbahn zu tun, sie sind Teil einer Markierung für einen Fußgängerüberweg.

 

Spannend wird es bei Kreuzungen von Gleisen. Dort müssen die nichtleitenden Segmente erheblich länger sein, um ein ansonsten unvermeidliches Feuerwerk zu verhindern.

 

Auch bei Weichen sind besondere Vorkehrungen erforderlich

 

Auch wenn man weiß, wie es geht: Die Straßenbahn in Bordeaux bereichert das Stadtbild

 

 (Alle Bilder dieser Seite: © Ulrich Marwedel 2008)

 

Die Vorläufer der oberleitungsfreien Stromversorgung für die Straßenbahn in Bordeaux

Das was heute als Errungenschaft modernster Technik herausgestellt wird, hatte in Bordeaux schon vor über 100 Jahren einen Vorläufer, der nach demsleben Prinzip, wenn auch mit anderen, weniger eleganten technischen Mitteln verfuhr.

Eine Tram in Bordeaux um 1900, die ihren Strom aus der Oberleitung bezog.

 


Ein Teil des Streckennetzes dieser Tram kam ohne Oberleitung aus, weil man ein Stromabnehmersystem in die Fahrbahn versenkt hatte. Dazu hatte man einen Schlitz zwischen den Schienen angelegt, in den ein unterirdischer Stromabnehmer abgesenkt wurde. Auf dieser Postkarte ist das System gut zu erkennen.

 


Hier versucht ein neugieriger Zeitgenosse offenbar, dem Geheimnis der unterirdischen Stromversorgung auf die Spur zu kommen.